Wie sich einmal nicht nur die Sonne verfinsterte

Nach einer wahren Begebenheit (Sonnenfinsternis vom 11. August 1999), erlitten und aufgeschrieben von einer Freundin, deren Worte hier z.T. noch unverändert enthalten sind. Aber zugegeben – des Lesers Bedürfnisse sind mir heilig, deshalb durfte dies gern ein wenig dramatischer ausfallen.
Wenn es hier ich heißt, dann sind das die Worte dieser Freundin.


Montag, 9. August 1999, 22 Uhr 17. Die Vögel sind verstummt, alles ist friedlich, meine Tochter schläft, der Nahe Osten ist ruhig, Deutschland guckt Herbstmilch. Ich preise den Augenblick tiefsten Friedens.

Aber das Verhängnis ist jetzt schon nicht mehr aufzuhalten:

Schatz!
Ja?
Könntest Du morgen noch mal versuchen, eine Sofi-Brille zu kriegen?
Eine was?
Eine Sonnenfinsternis-Brille.
Klar. Ich lege das Bügeleisen beiseite und ahne noch nicht, daß ich soeben um ein Haar mein Todesurteil gesprochen hätte.

Dienstag. Die Menschen in der Fußgängerzone sind seltsam ungleichmäßig verteilt; keine Seele steht vor den Auslagen der Textil- und Lebensmittelgeschäfte, aber große Trauben ballen sich vor Optikern und Apotheken. Ich balle mit, denn ich habe keine andere Wahl.

Nach jeweils langen Wartezeiten, hie und da die Ellenbogen nicht schonend, erlebe ich schließlich am Tresen immer wieder dasselbe: Bedaure! Vereinzelt werde ich gebeten, dem Verkäufer eine mitzubringen, wenn ich noch eine Schutzbrille ergattern sollte.

Ein Optiker hat noch ein verheißungsvolles Schild im Schaufenster:

Sofi-Brillen 15,- DM

Man erkennt deutlich am Preisschild, daß die 5 nachträglich eingeschrieben wurde. Ein Verkäufer begleitet eine selig lächelnde Kundin zur Tür. In der Hand hält sie vorsichtig und andächtig wie eine Reliquie den kostbaren Papprahmen mit Plastikfolie. Der Weißkittel nimmt indessen das Schild aus der Auslage und ersetzt es durch ein anderes:

Sofi-Brillen ausverkauft

Also wieder nichts. Im Weitergehen nehme ich noch wahr, wie sich zwei finster dreinblickende Gestalten an die Fersen der Kundin heften.

Im Optikerladen Colibri in der Wahmstraße sagt man mir, daß am Mittwoch vormittag ab 10 Uhr auf dem Schrangen noch Schutzbrillen verteilt würden. 250 Stück habe man für diesen Zweck zurückgelegt. Unter verführerischem Einsatz meiner Augen, der Hüften, meiner kurzberockten Beine versuche ich, wenigstens eine davon zu bekommen, aber erfolglos. Ob der Optiker schwul ist?

Mittwoch, der Tag.

Meine siebenjährige Tochter Kim und ich machen uns vorsichtshalber sehr zeitig auf und kommen schon um viertel nach neun auf dem Schrangen an. Es hat sich bereits eine etwa 20 Meter lange Schlange vor einem Stand der Techniker-Krankenkasse gebildet. Weißes Party-Zelt, Tapeziertische, Reklamezettel, Eimer, aber keine Sofi-Brillen! Wir gehen zum Ende der Schlange, stellen uns brav an und harren der Dinge.

Um uns herum steigt die Ungeduld, keiner weiß so genau, wie sich das gestalten wird. Gerüchteweise heißt es, man müsse zunächst noch einen Zettel ausfüllen, und daß es nur eine Brille pro anwesender Person geben solle. Einer will gehört haben, es sei ein Rezept vom Augenarzt erforderlich.

Viertel vor zehn. Ich gehe Eis von Niederegger holen, entlang der schon riesig gewordenen Menschenschlange, während meine Tochter die Stellung hält. Ich wußte gar nicht, daß Lübeck so viele Bürger hat!

Ich bin sehr zuversichtlich, daß wir noch eine oder zwei Sofi-Brillen kriegen, denn wir stehen ja unter den ersten 100 Leuten.

Punkt 10 Uhr. Es bewegt sich immer noch nichts. Manche schimpfen, aber die meisten harren aus, beruhigen sich gegenseitig. Eine Mitarbeiterin des Optikers geht die Reihen ab und erklärt das Vorgehen:

Es werden Lose verteilt, und unter diesen Losen befinden sich dann die Gewinne, die eine SF-Brille und sonstigen Schnickschnack enthalten. Um 11 Uhr würde man dann mit der Verteilung der Preise beginnen.

Ein Herr einige Meter vor uns brüllt laut, daß er sich doch nicht veräppeln ließe (wobei er sich geringfügig weniger vornehm ausdrückt) und fuchtelt wild mit seinem Schirm. Die Ärmste vom Optiker muß sich nicht nur von ihm einiges Unerfreuliche anhören.

Zehn nach zehn. Nein, es ist immer noch nicht losgegangen, aber gehen möchte auch keiner.

Viertel nach zehn. Es tut sich was: Eine Mitarbeiterin mit einem Eimer voller Lose, begleitet von einem anderen Mitarbeiter und einem jungen Mann mit Mikrofon, kommt hinten aus dem Zelt heraus und geht an der Reihe entlang in Richtung Fußgängerzone. Um mich herum Empörung! Man regt sich aus gutem Grund darüber auf, daß die Leute da hinten zuerst mit den Losen beglückt werden, wo man doch hier schon so lange anstehe.

Ein weiterer Mitarbeiter mit einem Loseimer kommt aus der Bude heraus und wird gleich von etlichen Leuten umringt. Unsere Schlange befindet sich noch auf der anderen Seite des Schrangen. Auf einmal setzen sich die Leute um uns herum in Bewegung und rennen hinüber zu dem schon eingekreisten Losemann. Ich zögere. Ein junger Mann neben mir sagt: Los! Kommen Sie! Sonst kriegen Sie keins mehr ab! Er zieht mich am Ärmel.

Also stürzen wir hin, um außerhalb des Pulks zu erleben, wie der völlig eingekeilte Losemann vergeblich versucht, seinen Eimer in die Höhe zu halten und sich durch die Massen zu kämpfen. Langsam, gleichwohl in ständiger hektischer Bewegung, wird er immer näher an das Karstadt-Gebäude gedrängt. Fast hat es den Anschein, er wolle sich durch die nahe Seiteneingangstür flüchten. Aber die Leute keilen ihn an der Wand ein.

Ob ihm der Eimer entrissen wurde oder er die Lose aus Verzweiflung ausschüttete, kann ich nicht mehr erkennen, denn ich und meine schreiende Tochter sind mittendrin im Geschiebe und Gedränge.

Ich habe die Orientierung verloren. Als ich mich umdrehe, stehe ich direkt vor einem Menschenhaufen – ja, wirklich! Da liegen Leute verschiedenen Alters übereinander, Angestellte der Krankenkasse und des Optikers, Jugendliche, Hausfrauen und Omis. Kinder und Erwachsene kriechen hinein, um nach ihren Angehörigen oder herumliegenden Losröllchen zu fahnden. Eine hockende alte Dame, eingeklemmt zwischen den zappelnden Leibern, schreit empört: Geh'n Sie von meiner Hand 'runter! Ein pausbäckiger Junge neben uns jubelt: Ich hab' sieben Lose! Er gibt uns zwei ab.

Ich stehe noch immer unschlüssig vor dem Haufen. Es ist mir zu blöde, mich zwischen die schwitzenden Körper zu drängeln. Eine ältere Dame mit großen weißen Locken und blauem Kostüm schubst mich unwirsch zur Seite, woraufhin ich gegen meine Tochter stoße und hastig nach ihr greife, damit sie nicht umfällt. Ich nehme sie lieber auf den Arm.

Die Kostümfrau klemmt sich ihren Gehstock unter die Achsel, bückt sich und sammelt behende einige Lose ein, die zwischen den zuckenden, keuchenden, fluchenden Körpern liegen. Einerseits bin ich erstaunt, wie beweglich sie noch ist, und andererseits male ich mir heimlich aus, wie wohl ihre schicke Frisur aussehen wird, wenn sich der nächste von hinten auf den Pulk stürzen und sie unter sich begraben wird.

Kim und ich – Kim? Kim! Kiii-him! Entsetzt bemerke ich, daß ich im Gedränge ein falsches Kind auf meinen Arm genommen habe. Meine Tochter sitzt unterdessen etwas abseits des Geschiebes und genießt sichtlich das Schauspiel.

Ich tausche die beiden Kinder aus. Kim und ich halten jetzt unsere Lose krampfhaft in der Hand, können aber kein weiteres mehr erwischen. Langsam schieben wir uns aus der Menge, freuen uns des Überlebens und suchen uns eine sichere Ecke, um die Röllchen zu öffnen. Wir haben beide Leider verloren – na ja.

Wir versuchen noch einmal vergeblich, am Rest des inzwischen arg mitgenommenen Standes ein weiteres Los zu erhalten und kämpfen uns durch das Gedränge. Mittlerweile habe ich Kim auf die Schultern genommen, damit sie mir von diesem Ausguck aus Bericht erstatten kann, denn Navigation ist das Gebot der Stunde.

Von Ferne nähert sich ein Martinshorn. Wurde auch Zeit.

Am Stand werden nur noch die Preise verteilt. Selbst das kann den Leuten nicht schnell genug gehen, denn viele sind in Eile, sagen, sie müßten dringend los, viele haben Angst, die Sonnenfinsternis zu verpassen. Inzwischen ist es viertel vor elf, also noch eine gute Stunde Zeit bis zur Finsternis.

Durch Zufall bekomme ich mit, wie ein Mitarbeiter einer Zeitung einen Angestellten von Colibri interviewt. So erfahre ich, wie verfahren worden ist:

Es gab 4000 Lose, wovon 1500 das Leider verloren enthielten. Auf den restlichen 2500 Losen gab es vierstellige Zahlen, wovon nur die Nummern, die mit einer 0 endeten, gewannen. Also 250 SF-Brillen und sonstiger Kram. Die anderen 2250 Lose mit der vierstelligen Zahl waren auch Nieten. Ich erinnere mich an den Ausruf des Herrn mit dem Schirm in der Schlange und muß ihm nachträglich recht geben.

Natürlich durchschauen das die vielen Leute vor dem Stand nicht, viele stehen umsonst mit ihrer Nummer dort an, und die armen und völlig überforderten Mitarbeiter im Stand müssen das immer wieder erklären.

Die Sanitäter, mit Tatü-tata endlich angekommen, versorgen ein paar leichte Hautabschürfungen, zwei Nervenzusammenbrüche und eine religiöse Ekstase mittlerer Schwere.

Hinterher bei Kaffee und Kakao im Kleinen Feuerstein am Ende der Fußgängerzone stellen Kim und ich kopfschüttelnd fest, wozu manche Leute so fähig sein können, aber lachen müssen wir dennoch. Dabei tun mir links ein paar Rippen weh.

Die Sonnenfinsternis haben wir uns dann im Fernsehen angeschaut.