Liebe deinen Nächsten und dich selbst

Diese Geschichte ist – abgesehen von den geänderten Namen – die lautere Wahrheit. Jedenfalls bis einschließlich 1. Oktober 1995. Der Rest ist bisher nicht passiert, aber jede Wette, so und nicht anders wird es kommen!

Der 12. Jahrgang meiner Schule ist auf seiner Studienfahrt nach Istanbul. Wir befinden uns gerade auf einem Abstecher in ein anatolisches Dorf namens Gökgöz, wo meine türkischen Freunde wohnen.

Samstag, 30. September und Sonntag, 1. Oktober 1995. Wir sitzen beide Abende bei Ali im Dorf beisammen und haben es gemütlich. Da tut sich offensichtlich etwas zwischen Kirsten und Ilhan, Alis Enkel. Immer wieder muß ich Wörter oder kleine Sätze übersetzen. Ein Verständigungsproblem, obgleich man sich offensichtlich gut versteht. Die beiden turteln, daß es nur so seine Art hat.

Auf der Rückfahrt aus dem Dorf nach Istanbul kommt Ilhan am späten Abend noch mit. Wieder bin ich Dolmetscher. Zeitweise sitzt Ilhan auch bei mir und hat ein Problem:
Ich möchte ihr schreiben. Soll ich es auf Deutsch, auf Englisch oder auf Türkisch tun?

Der Ahnungslose! Er hat gleich drei Probleme auf einmal:
Wenn er auf Deutsch schreiben will, was er nicht kann, dann muß er seinen Vater bitten, seine türkischen Briefe zu übersetzen Der kann ganz gut Deutsch, weil er ein paar Jahre hier verbrachte. Das bedeutet, daß er den Inhalt wohl abwägen muß, sonst kriegt er ein viertes Problem mit seiner Familie.
Wenn er auf Englisch schreibt, besteht sein Problem darin, daß Kirsten ein Problem hat. Sein Englisch ist nämlich nicht berauschend.
Wenn er auf Türkisch schreiben will, ist seins ebenfalls Kirstens, denn sie wird es nicht verstehen.

Also biete ich ihm an, seine türkischen Briefe ins Deutsche zu übersetzen und ihm zurückzuschicken, damit er die übersetzung mit seiner Handschrift überträgt. Später mache ich Kirsten das entsprechende Gegenangebot.

Montag, 13. November 1995. Ilhans erster Brief kommt. Er wurde vor ungefähr eineinhalb Wochen abgeschickt.
Liebe Kirsten,
nun ist es schon so lange her, daß ...

(Wir wollen diskret sein und nicht den ganzen Inhalt verraten. Ich selbst habe mich beim Lesen ebenfalls bemüht, möglichst gar nicht hinzugucken.)

Ich übersetze seinen Brief, tüte ihn ein und schicke ihn noch am selben Tag an ihn zurück. Wohl wieder eineinhalb Wochen später wird er ankommen. Nach einer weiteren guten Woche wird Kirsten in geschliffenem Deutsch lesen, wie lange es schon her ist. daß ... Es wird viereinhalb bis fünf weitere Wochen lang her sein.

Donnerstag, 7. Dezember 1995. Kirsten gibt mir einen Brief, der für Ilhan bestimmt ist. Mit gesenktem Blick bittet sie mich, ihn zu übersetzen und ihr die türkische Version zu geben. Klar doch!
Lieber Ilhan,
...

(Allerhöchste Diskretion! Nur so viel sei verraten: Das köchelt ganz schön zwischen den beiden.)

Am nächsten Tag hat sie ihren Brief und die übersetzung wieder. Sie weiß nicht, daß ich mich bemüht habe, den Wortlaut stilistisch an die türkische Seele anzupassen. Ihr dies des langen und breiten zu erklären, hätte sich nicht gelohnt.

Samstag, 30. Dezember 1995. Ilhans Antwort ist pünktlich. Bei einer Postlaufzeit von ungefähr einskommafünf Wochen war sie in diesen Tagen zu erwarten, denn Kirstens Brief und der seine verschlissen zusammen gut drei Wochen.

Sevgilim: Ne kadar seni aradim! Rüamda seni gördüm çok sefer. Seni seviyorum gözlerimden daha fazla!
Und so geht es weiter. Er hat es wirklich drauf! (Natürlich wird nicht verraten, was das heißt. Diskretion, wie gesagt.)

Ich übersetze den Brief, so gut ich kann. Meine Fähigkeiten in deutschen Liebesbriefen halten sich in erträglichen Grenzen. Die Teile, die uns Deutschen eher ein wenig kitschig vorkommen, glätte ich etwas, um Kirsten nicht mit einem Cyrano de Gökgöz zu schockieren.

Da wir gerade Ferien haben, schicke ich Kirsten Ilhans Brief und meine übersetzung mit der Post zu. Das dürfte wohl am 2. Januar ankommen, denn der Sonntag ist ein Sonntag und der 1. Januar ein Feiertag.

Mittwoch, 24. Januar 1996.
Lieber Onkel Arnulf,
Was? Wieso an mich? übrigens habe ich ihm hundertmal gesagt, daß bei uns Onkel alte Männer sind, zu denen ich mich noch nicht zählen möchte.
es dauert so lange, bis unsere Briefe ankommen. Es ist sehr schade, wenn Kirsten meine Handschrift nicht lesen kann, von der gesagt wird, sie sei sehr schön. Aber dieser Weg ist sehr umständlich. Gib ihr doch bitte meinen Brief direkt, nachdem Du ihn übersetzt hast.
Das leuchtet ein.

Das zweite Blatt ist an Kirsten gerichtet:
Kalbim, canim, hayadim!!!
Das ist die Formel 1 des Minnesangs! Habe ich bei der übersetzung von Kirstens Brief bei der Anpassung an die türkische Seele eben diese genau auf die 12 getroffen? Es ist wohl eher so, daß der Arme deshalb so auf die Pauke haut, weil er seit unserem Aufenthalt in seinem Dorf erstmals Post von ihr bekommen hat. Er schlägt sehr umschweifig vor, daß sich die beiden in den Sommerferien bei ihm treffen.

Warum wollen mir heute Namen wie Julie Schrader oder Friederike Kempner nicht aus dem Sinn gehen? So kitschig ist es doch nun wirklich nicht. Für den Sprachgebrauch in seiner Heimat hat er wirklich ein sicheres Stilgefühl, soweit ich das beurteilen kann. Ich übersetze alles 1 zu l, ohne den Text auf die europäische Seele hin zurechtzufönen.

Am nächsten Tag gebe ich Kirsten den Brief zusammen mit meiner computergetippten übersetzung, wie mir Ilhan aufgetragen hat.

Freitag, 26. Januar 1996. Nichts. Montag, 29. Januar 1996. Wieder nichts. Was ist los?

Dienstag, 30. Januar 1996. Kirsten kommt und gibt mir einen Brief. Sie sagt, es sei ihr einfach nichts eingefallen. Ilhan sei ja wirklich sehr nett, aber mit dieser geballten Wucht an Romantik könne sie nicht konkurrieren. Ich solle ihren Text vielleicht ein wenig blumiger formulieren, als er ihr aus der Feder geflossen sei, und ihn ebenfalls direkt an Ilhan schicken.

Mein Lieber,
Ist doch schon was!
Wie sehr mußt Du ...
Nein, mehr wird nicht verraten, nur noch dies:
Aber ...

Oha! Wie kriege ich das blumiger? Ich gebe mir Mühe und schicke Kirstens Original sowie meine übersetzung an Ilhan, nachdem ich vorsichtshalber aus Versehen ein paar Tropfen Rasierwasser habe drauffallen lassen. Chanel No. 5 ist gerade alle. Blumig genug?

Samstag, 17. Februar 1996.
Çok, çok, çok, çok sevgilim:
Ob ich es mal schaffe, meine Freundin Hanni so anzusprechen? Sie wird mir dafür bis ans Ende meines oder ihres Lebens die Socken bügeln.

Ilhans Briefe werden für mich schwieriger, weil ich in meinen Urlauben mit meinem Alltagstürkisch nur ganz selten unter vergitterten anatolischen Balkonen Liebesgesänge schluchze. Für diese Variante des Türkischen fehlt mir einfach das Training.

Am Montag hat Kirsten den Brief und die übersetzung. Sie liest sie sofort durch, während wir noch beieinander stehen.
Ja, danke auch.

Mittwoch, 21. Februar 1996. Vielleicht liegt es nur am Aschermittwoch. Jedenfalls kommt Kirsten etwas muffelig auf mich zu.
Also, das überfordert mich echt. Ich finde ihn ja wirklich so ganz toll, aber mit dieser Intensität komme ich einfach nicht mit, irgendwie. So viel Dampf kriege ich einfach nicht hin. Du weißt ja, wie das so ist, wie ich ihn finde und so. Tust du mir den Gefallen und schreibst einfach mal, was dir so einfällt? Ich weiß echt nicht, was ich da Angemessenes erwidern soll. Im nächsten Urlaub kann ich es ihm ja direkt sagen.

Am Nachmittag gebe ich mir die größte Mühe. Am meisten Mühe kostet es dabei, nicht an Ilhan, sondern abwechselnd an Claudia Schiffer, Lady Di und Bette Davis als Empfängerinnen zu denken (Hanni, vergib mir!). Es bleibt mir noch genug Zeit, vor Ladenschluß meine Rasierwasservorräte aufzufüllen, wovon ich die Hälfte – wiederum versehentlich, versteht sich – mitten auf den Brief verschütte. Der Toner des Druckers kann das ab.

Montag, 11. März 1996.
Lieber Onkel Arnulf,
Er soll die Onkelei endlich lassen.
ich habe viel mit meinen Freunden gesprochen. Wir sind uns nicht ganz sicher, ob Kirsten vielleicht Frauen liebt oder Männer und Frauen. Ihr letzter Brief war nicht etwa für meine Schwester bestimmt? Andererseits kann ich es auch wieder nicht glauben. In unserem Dorf Gökgöz hat sie sich so verhalten, wie ich mir vorstelle, daß europäische Frauen sich verhalten. Das weiß ich natürlich nicht so genau, weil ich sie nur aus dem Fernsehen kenne.

Ilhan philosophiert des weiteren darüber, ob Kirstens für türkische Verhältnisse äußerst freie Art, wie sie sich in Gökgöz ihm gegenüber gegeben habe, vielleicht auf ein Liebesleben hindeute, das er nicht handhaben könne. Und überhaupt, in ihrem Alter! Er finde auch merkwürdig, daß sie Rasierwasser benutze.

Er möchte Kirsten wie verabredet in den Sommerferien sehen und sich ganz aus der Nähe noch einmal ein Bild machen. Einstweilen soll ich mit meinen Erfahrungen mit europäischen Frauen an sie schreiben, als käme es von ihm. Er macht ein paar Vorgaben, überläßt aber das Wesentliche mir. Ich soll bloß aufpassen, daß ich sie weder verärgere, noch ihr zu sehr Hoffnung mache, falls sie so eine sei, wie wir das ausdrücken würden.

Kirsten ist ein paar Jahrzehnte jünger als das, was ich so meine Traumfrau nennen würde, aber dieser Brief fällt mir leichter als der an Ilhan, denn immerhin ist sie ohne Zweifel weiblich.

Dienstag, 12. März 1996. In der Schule gebe ich ihr den Brief.
Arnulf, du gibst dir wirklich viel Mühe für mich. Aber ich denke, es ist so aussichtslos. Wir können nicht im Ernst daran denken, eine gemeinsame Zeit miteinander zu haben. Der Urlaub, ja. Das bringt aber doch alles nichts. Im Urlaub werde ich ihm das selber sagen. Schreibst du noch einmal für mich an ihn?

Ja doch. Welche Empfängerin soll ich mir jetzt vorstellen? Die Superfrauen von neulich haben alles vermasselt. Ich versuche es mit Florence Nightingale, Mama und Margaret Thatcher. Ich füge dem Brief hinzu, daß Arnulf zu mir – pardon, daß ich zu Kirsten gesagt hätte, ich wollte nicht so gerne mit Onkel angesprochen werden.

Am nächsten Tag flüstern mir ein paar Kollegen und Schüler diskret zu, daß mein Rasierwasser etwas weibisch rieche. Ich kehre wohl doch wieder zu meiner alten Marke zurück.

Donnerstag, 4. April 1996.
Mein Onkel,
Im nächsten Urlaub bringe ich ihn um!
Kirstens letzter Brief hat mich völlig durcheinandergebracht. Ich weiß nicht, wie ich diese Frau einschätzen soll. Nun kommt sie mir zwar nicht mehr sehr frivol vor, aber sie scheint von einer gewissen Strenge zu sein, die wir Türken nicht lieben. Es ist wohl wirklich besser, bis zum Urlaub zu warten. Sage ihr bitte, daß mich ihre Briefe verwirren, und daß sie bis dahin nicht mehr schreiben möchte.

Das ist hart. Das kann ich Kirsten unmöglich sagen. Ich verfasse einen sehr diplomatischen Brief von Ilhan. Der Brief schreit zwar nicht gerade nach Post von ihr, läßt aber durchblicken, daß es immer wieder eine Freude sei, einen Brief zu erhalten. Vor allem gefalle ihm, daß sie Albernheiten wie parfümiertes Papier vermeide.

Freitag, 5. April 1996. Kirsten wirft meinen Brief ungelesen in den Papierkorb.
Arnulf, ich kann das nicht mehr fortsetzen. Und was soll schließlich Thorsten davon halten?
Den kenne ich noch nicht.
Sage Ilhan bitte, daß es gelaufen ist. Es war ja ganz nett die Tage in Gökgöz, aber nun wird es langsam idiotisch.

Harter Tobak. Wie erkläre ich ihm das? So:
Lieber Arnulf, wenn nur die Post nicht so langsam wäre! Ich sehne mich schon nach Deinem nächsten Brief.
Usw. Noch am selben Nachmittag antworte ich Kirsten:
Mein geliebter Arnulf,
zehn volle Minuten sind vergangen, seit ich zuletzt Post von Dir erhielt. Die Zeit wird mir so lang bis zu Deinen nächsten lieben Zeilen. Bitte, bitte warte nicht.

Samstag, 6. April 1996. Heute habe ich mir sage und schreibe 12 Briefe geschrieben. Mein Spiegel ist schon völlig blind von den Küssen, die ich ihm zwischendurch immer wieder gab.

Wer ist Hanni?