Vom Dichten und Trachten

Trachte, Dichter, wenn du dichtest
für die Nach- und Mit- und Welt,
daß du gut dein Werk verrichtest,
nicht zuviel Papier vernichtest,
weil man dafür Bäume fällt.

Sei's das Epos, sei's die Ode
oder bloß ein Scherzgedicht,
kümmern soll sich der Rhapsode
um Bestand und nicht um Mode,
auch um Reich-Ranicki1 nicht.

Heilige des Verses Maße,
laß die Silben steigen, fallen.
Dann gehst du die rechte Straße
gradewegs auf zum Parnasse,
wo die Dichterfürsten wallen.

Wäge wohl die hehren Worte,
sage Sachen tiefen Sinnes.
Schreite durch die hohe Pforte
der Erleuchtung hellster Sorte
hoch erhobnen Haupts und Kinnes.

Tu's in Ruhe, sei nicht hektisch,
flüchte nicht zu Fremdzitaten,
sonst sagt man, du seist eklektisch.
Jamb-, trochä-, akatalektisch,
irgendwas wird schon geraten.

Nicht nur Schönes sollst du singen,
zeig der Welt ihr ganzes Sein!
Was nicht heißen soll, es gingen
nur oder vor allen Dingen
Texte über Bonn2 am Rhein.

Ringe in Titanenschlachten,
wenn es sein muß, um ein Wort.
Du mußt es mal so betrachten:
Dichter, die des Worts nicht achten,
kommen schlecht beruflich fort.

Strebe wohl in jeder Zeile
nach dem schlußendlichen Reim.
Manchmal dauert's eine Weile;
schnitze notfalls oder feile,
bis es klingt wie Honigseim.

Doch vor allem: Schinde Strophen!
Mach die Seiten berstend voll!
Schließlich willste was verkoofen,
Kohlen ordern für den Ofen,
Weil der Schornstein rauchen soll.

Auf daß der Leser löhne
das Wahre, Gute, Schöne!

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1 Marcel Reich-Ranicki (1920-2013), zu Lebzeiten hierzulande der Literaturkritiker schlechthin
2 Als dieses Gedicht entstand, war Bonn (bis 1999) noch Regierungssitz der BRD.