Wir werden alt!?

Möchten Sie etwas essen?“ Wie bitte? Ich habe mich nicht verhört: Die neue Kellnerin in meiner Stammkneipe, so Mitte zwanzig, hat mich soeben gefragt, möchten Sie etwas essen? Binnen einiger Sekunden habe ich meine Fassung so leidlich wieder und bitte, bringste – bring' Se mir'n Alt? Wenig später kommt mein Alt, obwohl ich doch ein Guinness wollte. Freud'sche Fehlleistung meinerseits.

Was ist passiert? Hängt an meinen ersten dritten Zähnen das Preisschild noch dran? Kriege ich das Graue nicht mehr unter das Rote gekämmt? Geht das Relief meiner Haut nicht mehr als Lachfältchen durch? Zugegeben, dafür reicht es inzwischen in allen drei Raumrichtungen zu tief

Meinen ersten Altersschock hatte ich als Referendar, damals selber Ende zwanzig. Da saßen vor mir Schüler der Oberstufe, mit denen ich ohne Zögern auf ein Bier losgetrabt wäre, ohne mich anders als sie zu fühlen. Der Schock kam, als ich in den Klassenbüchern ihre Geburtsdaten las: Ich war fast ein ganzes Jahrzehnt älter!

Noch ein Altersschock an meinem 30. Geburtstag. War es nun Zeit, erwachsen zu werden? Sollte ich ein Testament aufsetzen? Welchen Sinn hatte das Leben noch, wenn ich nur noch auf die Rente warten konnte? War nach so wenigen Berufsjahren schon eine menschenwürdige Unterbringung in einem Altenheim gesichert? Ich wollte ja nicht unbescheiden sein, aber eine Badewanne mit Einstiegstreppchen und Haltegriffen in der Wand sollte es schon haben. Wie beantragt man Essen auf Rädern? Wie sollte meine damals noch kleine Tochter die Bestattungskosten aufbringen? Fragen über Fragen, eine schwieriger als die andere für ein Gehirn, das den Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit überschritten hatte und nun allmählich dem Altersschwachsinn entgegendämmerte.

Im folgenden Jahrzehnt erholte ich mich bald, erfuhr, daß das Leben noch eine Menge Neues für mich bereit hatte, begann sogar, mein Alter zu genießen. Das war schon was, mit wesentlich älteren Leuten reden zu können, ohne ungeduldig und gelangweilt eine Gelegenheit abzupassen, mich da rauszuwinden. Gleichzeitig einen guten Draht zu Jugendlichen der Clearasil-Generation zu behalten, notfalls sogar über Rockmusik zu fachsimpeln – oder jedenfalls zu simpeln, das hatte seinen Reiz behalten. Ein Alter, in dem man mit zwei Jahrzehnten Altersspanne nach oben und unten gut klarkam. Ther­mopane-Brille hin, Zahnspange her, die Leute hatten mir noch bzw. schon etwas zu sagen.

Die Endlife-Crisis schien überstanden. Wenn meine inzwischen ebenso volljährige wie rothaarige Tochter drohte, du kommst ins Heim!, dann konnte ich darüber lachen. Ich war bislang davon überzeugt gewesen, daß sie das nicht ernst gemeint haben konnte.

Nun nagen die Zweifel.

Vor meinem 39-b-ten Geburtstag, als wieder eine Null fällig wurde, hatte ich Töchting eingeschärft, sie möchte bloß keine Notiz davon nehmen. Ich wollte den Tag begehen wie jeden anderen, nur nicht an den Geburtstag denken, keine Gäste haben, den Geburtstag ignorieren, vielleicht ein bißchen fernsehen, Geburtstage überhaupt doof finden, meine Ruhe haben, nie Geburtstag gehabt haben, mich vielleicht auf irgendeine lange liegengebliebene Arbeit stürzen, Geburtstag? – nie gehört, endlich das Foucaultsche Pendel weiterlesen – Scheißgeburtstag!

Meine Brut hielt sich selber zwar wohltuend zurück, aber am Telefon hatte sie ES einem jüngeren Kollegen gesteckt, das Luder. Der kam abends an mit einer Tüte, voll mit etlichen exotischen Bieren wie belgischem Trappisten und so. Das versöhnte mich ein bißchen mit dem Verrat meines eigenen Fleisches und Blutes an seinem noch immer kaum minder rothaarigen Vater.

Der Abend verlief in aller gebotenen Feuchtigkeit zunächst befriedigend. Doch was war das?! Hatte das Lächeln meines Kollegen nicht eben einen mild-mitleidigen Zug gehabt, so, als wollte er sagen, wir werden alle nicht jünger? Würde er mir gleich die Hand tätscheln? Sprich es nicht aus, Milchbart, sonst kriegst du die väterliche Freundschaft gekündigt, Grünschnabel, grüner! Außerdem halte dich gerade, putze dir die Nase und sprich im ganzen Satz! Schließlich sollst du es mal besser haben als ich!

Im Laufe des Verzehrs seiner Mitbringsel besserte sich meine Laune allmählich wieder. Nun war ich also vierzig (nicht weitersagen!).

Das ist nun auch schon wieder einen Moment her. Wieder begann ich, noch immer in leidlicher geistiger Frische, dem Rest meines Lebens noch ein paar gute Seiten abzugewinnen. Anfangs ertappte ich mich zwar noch dabei, die Aussicht gar nicht so übel zu finden, irgendwann auf einer Parkbank in der Sonne mit anderen Senioren die jeweils neueste Therapie gegen Vergeßlichkeit, Zittern und Zippern zu diskutieren. Hoffentlich würde ich dabei nicht zu sehr sabbern – ästhetisch wollte ich doch lieber bis zu meinem letzten Stündlein, das ich jeden Augenblick erwartete, noch ein wenig hermachen.

Aber auch an die Vierziger gewöhnte ich mich allmählich. Nun konnte ich auch kleine Nackenschläge wie diesen einstecken: Meine Schüler wollten mich unbedingt im Galaxis sehen, so 'ner Disco. Meine etwas müde Reaktion wurde eilfertig gekontert mit dem sicherlich gut gemeinten Nachsatz, geh'n Se donnerstags, da spiel'n se Oldies. Na, schönen Dank!

Und jetzt das, möchten Sie etwas essen? Wenn ich das in meiner Männergruppe erzähle! Soll ich die Stammkneipe wechseln? Aber gegen welche? Soll ich nun doch erwachsen werden? Meine Bier-Sessions auf Seniorennachmittage verlegen? Ach so, da gibt es nur Schonkaffee und Diabetikerkuchen. Vielleicht sollte ich mir endlich die Haare schneiden lassen, eine Krawatte, ein seriöseres Auto und eine Aktentasche zulegen. Man wohnt, glaube ich, auch nicht mehr in einer WG in meinem Alter. Wegschmeißen werde ich meinen Walkman jedenfalls nicht. Klammheimlich auf dem Klo kann ich ihn sicher noch benutzen. Na schön, dann eben mit Mozart.

Die interessantesten Seiten meines Junggesellendaseins werden wohl auch nicht bis in alle Ewigkeit auf die gewohnte Weise genießbar sein. Gibt es Viagra auf Rädern? Zuschußfähig?

Wenn gottbehüte dereinst Enkel auf meinen Knien herumrutschen, so etwa in dem Alter, als ich selber noch Prinzessin werden wollte, dann werde ich ihnen erzählen, was dieser Uhu (so heißen wir Gruftis U-nter HU-ndert) mal für ein toller Hecht war. Damals in der Steinzeit. Hoffentlich hopsen sie dabei nicht allzu wild umher – so ein Kniegelenk ist schließlich nicht gerade billig.

Was sollte werden, wenn ich fünfzig wäre, falls ein Säugetier dieses Alter überhaupt ohne Doping erreichen könnte? Vielleicht würde ich dann rübermachen nach Berlin oder Florida, wo ich noch zu den Küken zählen würde. Da soll es auch Hörgeräte geben, die man kaum noch bemerkt.

Achtung, festhalten: Mittlerweile bin ich bereits 50. Ohne Dope, ehrlich! Was man hin und wieder über Greisengeburtstage liest, scheint alles nur Veräppelung zu sein; der Bundespräsident kam nicht, um mir zu gratulieren. Als die wesentlich alltäglicheren Geburtstagsgäste ge­gangen waren, duschte ich sorgfältig, zog ein reines Hemd an, legte mich auf mein Bett und harrte des Freundes Hein. Kam er nicht, weil ich ihn nicht eingeladen hatte? Hin wie her, ich lebe noch, wie man sieht. Die Familiengrabstätte für meinen Computer und mich muß also wohl noch ein wenig leer bleiben. Na ja, er ist ja auch noch nicht so alt.

Und wer von euch Lesern ein Stück älter ist als ich und sich jetzt verarscht fühlt, hat den Altersschock tatsächlich in den Knochen – und im übrigen mit dem Gefühl, verarscht worden zu sein, vollkommen recht. Selten war ich so gut drauf wie in diesen Jahren. Die Gören sind aus dem verhaubedürftigen Alter raus, voreilige Partnerschaften sind Historie, man hat schon was erlebt und weiß bescheid. Der Kadaver macht noch jeden Quatsch mit, die neuen Zähne beißen ebenso gut wie die alten, tun aber nicht mehr weh; das Leben macht noch einen Heidenspaß.

Soll sie mich doch siezen, die Göre, die mir wegen dieses lächerlichen Versprechers das falsche Bier brachte. Es schmeckt deswegen nicht nennenswert schlechter. Mein Guinness kann ich ja noch nachbestellen. Fünfzig Jahre lang fünfzig oder auch noch ein bißchen älter sein, das wäre es gewesen!

Bitte in 10 Jahren die 5 da oben in der Zehnerstelle laut und deutlich durchstreichen und eine 6 daraus machen. Dann stimmt der Rest vermutlich noch immer.

Undsoweiter.

Nachtrag: Die 6 ist längst erreicht, die 7 dräut in Kürze. Aber noch immer unterschreibe ich jede Silbe des oben Gesagten.